Wertschätzung gegenüber den Leuten, mit denen wir zu tun haben, ist zugleich das Schwerste als auch Wichtigste.
Wertschätzung für das Gegenüber, egal, um wen es sich handelt, wäre die Medizin, um die Menschheit zu heilen.
Ich erlebe diesen gegenseitigen Respekt immer wieder mit meinen Kunden. Als selbst Autor habe ich eine Software für Autoren entwickelt, die mittlerweile Tausende Male von deutschsprachigen Autoren weltweit eingesetzt wird. Ich mag die Arbeit des Programmerstellens und ‑wartens sehr gerne, aber wirklich glücklich machen mich immer wieder Erlebnisse mit meinen Anwendern. Gerade eben hatte ich wieder so ein Erlebnis, bei dem es um ein Problem seitens des Benutzers ging, zu dem mir keine Lösung einfiel, da es offenbar am Rechner des Kunden lag. Zwar machte ich einige Vorschläge, doch von keinem erwartete ich wirklich, dass es die Lösung sein konnte — ich hatte einfach keine Idee. Schließlich meldete sich der Autor und teilte mir mit, dass er den Fehler gefunden hatte und fragte, ob man nicht seitens des Programms eine Absicherung einbauen könnte, dass man diesen Bedienvorgang nicht durchführen kann. Auf die Idee, was die Situation ausgelöst hatte, wäre ich nie gekommen. Selbstverständlich wurde die Absicherung umgehend eingebaut und wird in der kommenden Version im Standard vorhanden sein. Der Mailwechsel war durchgängig von gegenseitigem Respekt getragen und wir gingen beide — obwohl es sich um ein Problem gehandelt hatte — abschließend in einen frohen Samstag.
Nur — wie soll man jemanden wertschätzen, den man verachtet oder geringschätzt?
Ich glaube, das Problem liegt darin, dass wir vom andern zu wenig wissen. Auch dazu hatte ich einmal ein Schlüsselerlebnis. Ich war mit dem Auto in der Stadt unterwegs. Vor mir fuhr ein neuer Pkw mal in der Mitte, dann so knapp am Rand, dass ich befürchtete, er würde sich die Reifen an dem scharfen Bordstein aufschlitzen. Dann wieder langsam, um gleich wieder zu beschleunigen. Kann denn dieser Mensch nicht zum Telefonieren in eine Parkbucht fahren, dachte ich mir und wurde zunehmend ungehalten. Schließlich wurde die Straße zweispurig und ich zog an dem Wagen vorbei, als er mal wieder äußerst rechts unterwegs war. Dabei blickte ich — grimmig, muss ich zu meiner Schande gestehen — zu dem Fahrer hinüber. Mit einem Schlag fiel mein Zorn in sich zusammen und wich tiefem Mitgefühl. Es war ein alter Mann, der mit verzweifeltem Gesichtsausdruck am Lenkrad klebte und nach vorne starrte. Nein, ich hatte nicht gedacht: ›Dann soll er doch zu Hause bleiben, wenn er zu alt zum Fahren ist.‹ Das bereits erfolgte Verkennen der Lage war zu beschämend gewesen. Vielleicht war er unterwegs zu seiner Frau, die im Krankenhaus lag? Oder er musste selbst dorthin — ich habe es nie erfahren. Aber das Erlebnis hat sich in mein Gedächtnis eingegraben.
In diesem Fall war es relativ einfach für mich, Mitgefühl zu empfinden, schließlich war es ein hilfloser, älterer Mensch. Doch wie sieht es aus, wenn das Verhalten von jemandem anderen bei einem selbst einen wunden Punkt berührt? Dann schießen die eigenen Hormone hoch und behindern die Fähigkeit, sich auf den andern einzulassen. Leider muss ich das trotz aller Erkenntnisse bei mir immer noch ab und zu erleben.
Wertschätzung gelingt uns üblicherweise nur dann, wenn die Handlungen des betrachteten Gegenübers unseren eigenen Werten gerecht werden. Das wird allein schon durch das Wort ›Wertschätzung‹ logisch und einfach nachvollziehbar. Wir schätzen demnach das Handeln des anderen, wenn es unseren eigenen Werten entspricht. So wird ein eingefleischter Verstandesmensch vermutlich die Haltung eines Esoterikers kaum wertschätzen und umgekehrt auch nicht. Oder, wie es sich derzeit zeigt, ein Corona-Maßnahmenbefürworter die eines Maßnahmengegners — vice versa.
Wie kann man diese Kluft überbrücken? Ich finde das wichtig, weil sie sehr eng mit dem Mitgefühl zusammenhängt, dessen Abwesenheit die Ursache beinahe aller Probleme unserer Gesellschaft sind. Dieser Mangel zeigt sich nämlich genauso in der Familie wie im Handeln von den Mächtigsten den Ärmsten gegenüber.
Auf jeden Fall ist der Weg zu einem bedingungslosen Mitgefühl ein andauernder und langer Prozess. Die großen Steine auf dem Weg dorthin sind unsere eigenen Verletzungen. Auf den Mechanismus selbst und wie wir ihn auflösen können, möchte ich in einem späteren Artikel näher eingehen.
Wichtig ist vorderhand nur, sich darüber bewusst zu werden, dass es überhaupt ein Problem gibt und wo dessen Wurzel sitzt.
Vorab so viel: Mitgefühl — und damit Wertschätzung — stellt sich je eher ein, desto mehr man die Werte und die Lage des anderen nachvollziehen kann. Versteht man zum Beispiel, dass der andere aus Angst heraus handelt, dann wird einem klar, dass es kein Angriff auf einen selbst ist. Allein diese Erkenntnis lässt schon viel Ablehnung in sich zusammenfallen.
Eine sehr einfache Möglichkeit, ein Gegenüber zu verstehen, ist ganz simpel, es zu fragen. Vielleicht bekommen wir nicht gleich Antworten, aber bereits damit, dass man nachfragt, anstatt gleich zu verurteilen, erweist man dem anderen Respekt. So schafft man sehr einfach eine ganz andere Grundlage für den
Austausch und hat den größten Schritt in Richtung gegenseitiger Wertschätzung und damit Verständigung getan.
Wertschätzung — so wichtig, und dabei oft so rar, im Kleinen wie im Großen.
Einfach fragen, was der andere meint. Neugierig bleiben.
Ich bin dafür 🙂
Ja, es wäre so einfach …
Das mittlerweile aufgeschobene allgemeine Umdenken ist so riesengroß geworden, dass mir bange ist, wie viele Menschen das schaffen werden. Weiß man doch von sich selbst, wie mühsam es oft ist, Gewohnheiten zu ändern.