Sich einlassen
Für die meisten von uns ist es nicht einfach, sich auf Unbekanntes einzulassen. Bei genauerem Beobachten dieses Prozesses entdeckt man, dass es sogar überraschend schwierig ist.
Und das ist völlig normal.
Den Mechanismus, der uns davon abhält, nennen wir ›Gewohnheit‹. Ich möchte ihn für unsere folgenden Überlegungen umbenennen in ›Automatismus‹, um ihn aus dem Feld des Gewohnten herauszuheben. ›Gewohnheit‹ ist etwas Emotionales und bei Emotionalem sagen wir zu Recht, dass sie etwas Individuelles sind. Der Automatismus aber ist, wie wir gleich sehen werden, etwas, das jeden in gleicher Weise betrifft — allerdings mit völlig individueller Färbung.
Ohne Automatismen wären wir lebensunfähig. Man stelle sich nur einmal vor, jede einzelne Bewegung bewusst zu veranlassen, wenn wir einen Löffel Suppe zum Mund führen und die Suppe schlucken. Es beginnt schon damit, dass wir uns an die Strategie erinnern müssten, die wir nutzen, um die Flüssigkeit vor uns herauf in den Mund zu bekommen. Dass sich zuerst einmal dafür nur ein nach unten gewölbter Gegenstand (Löffel) eignet und nicht einer mit ein paar Spießen (Gabel). In weiterer Folge müssten wir uns daran erinnern, dass man mit diesem Gegenstand einen Teil der Flüssigkeit herausnehmen kann, um ihn in unseren Mund zu befördern. Und dann an all die Muskeln, die wir benötigen samt den fein abgestimmten Bewegungen, dass der Löffel waagerecht bleibt. Dabei sind das nur die gröbsten Eckpunkte dieses Vorgangs, den kaum wer bewusst wahrnimmt. Im Gegenteil fällt es sogar schwer, all die Komponenten mit einzubeziehen, die nötig sind, damit ein lächerlicher Löffel Suppe, ohne sich auf dem Weg dorthin zu verlieren, in unserem Mund landet.
Was macht das möglich? Genau: Automatismen. Man kann es auch Programm nennen oder eben Gewohnheit, egal, es ist alles dasselbe: Ein bestimmter Vorgangs-Baustein, der irgendwo in uns abgespeichert ist und auf Wunsch abgerufen werden kann. Das riesige Datenlager nennen wir Unterbewusstsein.
Automatismen sind also etwas äußerst Hilfreiches.
Es gibt allerdings eine Einschränkung. Sie sind es nur so lange, als sie uns unterstützen. Sobald sie sich gegen uns stellen, sind sie keine hilfreichen Diener, sondern werden zu einer Art Auto-Immunerkrankung.
Hilfreiche Automatismen sind Suppe löffeln, Auto fahren und sprechen zu können. Sie sind aber auch, zu grüßen, wenn wir einem Menschen begegnen, uns zu bücken um die heruntergefallene Geldtasche des Gegenübers aufzuheben oder jemandem an der Kreuzung den Vorrang zu lassen. Ebenso gehört dazu, wenn, sobald uns Unrecht geschieht, wir die Fäuste ballen oder sie in Richtung des gegnerischen Kinns auf den Weg schicken, wir zornig reagieren, wenn jemand etwas tut, was wir schon häufig als uns unangenehm kommuniziert haben oder wenn wir immer nach der Schnapsflasche greifen, beziehungsweise uns eine Line reinziehen, sobald das Leben nicht mehr erträglich ist.
Gibt man sich … Wir sehen, es gibt eine unglaubliche Bandbreite dieser Automatismen und sie reichen in jeden Lebensbereich und jede Schicht unseres Seins hinein. Automatismen steuern unser Leben.
Unbewusst.
Bei diesem einen Wort liegt der Schlüssel zu unserer Freiheit. Zwar nur der Schlüssel, wie wir sehen werden, aber immerhin — ohne Schlüssel kein Eintritt.
Was hat es nun mit dem Einlassen der Kapitelüberschrift auf sich?
›Sich auf etwas einlassen‹ wird gern als Synonym für Mut oder Naivität genommen. Sich auf etwas einlassen ist von einem beängstigen Geruch nach Unsicherheit umweht und strömt zugleich den lockenden Duft des Abenteuers aus. Je nach Zusammensetzung unseres Innenlebens überwiegt der eine oder andere Teil. Ist Sicherheit bei einem ein großes Thema, wird man sich nicht leicht einlassen. Ist man der Abenteurertyp, stürzt man sich auf jede Gelegenheit. Mit anderen Worten: Während sich die einen schwer damit tun, sich auf Unbekanntes einzulassen, gieren andere — das sind allerdings nicht viele — richtiggehend danach.
Ob man zum einen oder anderen Typ gehört, liegt zu einem großen Teil an unserer Kindheit. Wurde man damals in seinem So-Sein bestätigt, ist viel Selbstbewusstsein aufgebaut worden, hat man weniger Bedenken, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben. Wurde man hingegen ständig brüskiert in dem, was man tat, war nie gut genug, wurde zurückgehalten in seiner Entfaltung, dann wird Neues schnell bedrohlich.
Beide Tendenzen sind in unserem Unterbewusstsein verankert, weshalb wir ganz automatisch in die eine oder andere Richtung handeln … nein, wir reagieren in die eine oder andere Richtung. Automatisch. Unterbewusst.
Sich einzulassen wird offensichtlich auch aus unserem Unterbewusstsein heraus gesteuert. Sind wir dem also machtlos ausgeliefert? Nein, gar nicht. Wir können lernen, diesen Vorgang zu beobachten. Zwar werden lange Zeit die Impulse trotzdem aufpoppen, aber wir können uns darauf trainieren, diesen Vorgang zu erkennen.
Hallo Martin,
danke für den Link und für den Blog. Die Idee und die Intention finde ich gut. Ich denke, da sind wir auf derselben Schiene, wenn ich auch in Sachen Corona von Deiner Meinung etwas abweichen mag. Aber das ist ja nicht das Wichtigste.
Viel wichtiger ist das, was ich hier, jedenfalls bis jetzt, gelesen habe, und darin stimme ich mit Dir gerne überein, obwohl ich einiges anders benennen würde. Aber das ist Ansichtssache.
Jedenfalls gefällt mir dieser Ansatz.
Wie ist das Ganze jetzt gedacht? Schreibst Du immer wieder etwas oder können hier verschiedene Leute was hinzufügen?
Herzliche Grüße
Martin.
Hallo Martin,
freut mich, wenn dir die Initiative gefällt!
In der ersten Stufe möchte ich ausloten, wie es funktioniert, also auf Basis der Kommentare kommunizieren. Vielleicht wird es einmal Gastartikel geben. Aber was du ansprichst Teil möchte ich dann lieber in dem noch einzurichtenden Forum abwickeln.
Viele Grüße
Martin