Wahrheit — was für ein feuergefährlicher Begriff! Jede, wirklich jede Meinung dazu lautet: Es gibt nicht die eine Wahrheit. Nein, es gibt deren viele. So viele, wie es Menschen gibt. Bisher noch nicht explosiv, oder? Aber jetzt: Ich behaupte, dass es nur eine einzige Wahrheit gibt.
Es geht schon damit los, dass, wie meistens, der Begriff ›Wahrheit‹ schwammig verwendet wird. Wer das bewahrheiten — Zwinkersmiley — möchte, braucht nur einmal bei Wikipedia nachzulesen:
»Gemeinhin wird die Übereinstimmung von Aussagen oder Urteilen mit einem Sachverhalt, einer Tatsache oder der Wirklichkeit im Sinne einer korrekten Wiedergabe als Wahrheit bezeichnet. Im Weiteren wird unter ›Wahrheit‹ auch die Übereinstimmung einer Äußerung mit einer Absicht oder einem bestimmten Sinn beziehungsweise einer normativ als richtig ausgezeichneten Auffassung (›truism‹ oder Gemeinplatz) oder mit den eigenen Erkenntnissen, Erfahrungen und Überzeugungen verstanden (auch „Wahrhaftigkeit“ genannt).«
»Tiefergehende Betrachtungen sehen Wahrheit als Ergebnis eines offenbarenden, freilegenden oder entdeckenden Prozesses des Erkennens ursprünglicher Zusammenhänge oder wesenshafter Züge.«
Ich finde es nicht nur spannend, sondern essenziell wichtig, sich mit Begriffen zu beschäftigen. Vor allem in Hinblick auf eine ganz neue Art des Austauschs, der in Zukunft kommen muss, bei dem diesbezügliche Treffsicherheit eine viel größere Rolle spielen wird. Aber das ist eine andere Geschichte.
Wenn Sie zu einem Wort beim Schreiben ein Synonym suchen — warum tun Sie es? Genau, weil ein verwandtes Wort den Begriff einfach besser treffen könnte. Jedes, wirklich jedes Wort passt nämlich nur zu einem einzigen Bild — seinem Bild. Dem für es wahre Bild.
Aber zurück zur Wahrheit. Natürlich könnte man über meine folgende Aussage endlos diskutieren, wie man das ja über alles kann. Ich behaupte, dass es nur eine einzige Wahrheit gibt. Diese Wahrheit bildet die kosmischen Gesetze ab, womit ich nicht die astronomischen meine. Okay, kann man nun sagen, und was sind diese kosmischen oder universellen Gesetze? Die kennt doch niemand.
Meine ersten Einblicke in die Wahrheit führen zurück auf das Buch ›Im Lichte der Wahrheit‹ des Autors Abd-ru-shin. Es hat sich darum herum eine Glaubensgemeinschaft gebildet, der ich nicht angehöre. Der Grund dafür liegt in dem leider immer wieder auftretenden Phänomen, dass die Mitglieder von Gemeinschaften, die aus der Botschaft eines Wahrheitsbringers heraus entstehen, in irgendeiner Weise seltsam werden. Sei es, die Botschaft als Manipulationsinstrument zu verbiegen, wie das bei der Kirche der Fall war oder dass man meint, nun die Wahrheit mit dem Löffel gegessen zu haben und so auf andere hinunterblicken zu können. Beides kommt für mich nicht infrage; was aber nichts daran ändert, dass diese Botschaften in ihrem Ursprung uns dem Verständnis der Welt näher bringen. Also denke ich, dass der beste Weg der ist, die enthaltenen Bilder nachzuempfinden und auf diese Weise sein eigenes Wissen zu erweitern. Jeder soll, finde ich, aus seinem eigenen Bestreben heraus versuchen, der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen.
Zwar lese ich immer wieder in besagtem Werk, aber es ist mir wichtig, den Inhalt für mich so umzuformen, dass meine eigenen inneren Bilder damit in Einklang sind. So durften mir im Laufe der Jahrzehnte sehr viele ergänzende Erkenntnisse zufallen, wodurch dieses unermessliche Bild der Schöpfung für mich immer plastischer, lebendiger und detaillierter wurde.
Die Wahrheit ist also die Gesetzmäßigkeit und der Aufbau des Universums. Ich glaube, wir werden davon immer nur einen Teil erfassen können. Also entstehen verständlicherweise mehrere Wahrheiten, auch wenn die nichts anderes sind, als unterschiedliche Blickwinkel auf die einzige Wahrheit.
Erschwerend kommt dazu, dass ›Wahrheit‹ ein Begriff ist, der vielfältig verwendet wird, meistens aber in Form von Wahrheit und Lüge. Man soll die Wahrheit sagen und nicht lügen. In der Informatik gibt es an der Basis nur zwei Zustände, True und False, also wahr und falsch. Dass auf diese Weise der Eindruck entstanden ist, dass es unzählige Wahrheiten gibt, finde ich nachvollziehbar.
Interessanterweise gibt es zu dem Adjektiv ›wahr‹ kein Antonym, also Gegenteil. ›Falsch‹ gehört als sein Gegensatz zu richtig, bei ›wahr‹ gibt es lediglich ›unwahr‹, während Lügen einfach bezeichnet, dass man nicht das ausdrückt, was der Wahrheit entspricht. Daraus, finde ich, lässt sich leicht ableiten, dass Wahrheit einfach das ist, was es ist. Und es die Wahrheit gibt oder, eben, die Unwahrheit.
Nehmen wir als Beispiel ein kleines Ereignis. Ein sonnenbeschienner Park mit einem Teich, in dem ein Schwan und ein paar Enten ihre Kreise ziehen. Familien sitzen auf der Rasenfläche bei einem Picknick, ab und zu läuft ein Jogger über einen der Kieswege, die auch von Spazierenden und Kinderwagenschiebenden locker bevölkert sind.
Auf einmal rennt ein Terrier laut bellend durch all die Leute, hinterher keucht eine ältere Dame und ruft ständig: »Hierher, Hupsi, hierher!« Nur — Hupsi ist sein Frauli ziemlich egal, denn sein Fokus ist ausschließlich auf die Enten konzentriert. Er stürzt sich ins sommerliche Nass, hektisch schnatternd starten die Enten zum Abflug, lediglich der Schwan richtet sich mit bösem Fauchen zu ihm auf. Um seine Beute gebracht und vielleicht durch den Herrn Schwan auch etwas eingeschüchtert, schwimmt Hupsi zurück zum Ufer, lauft zu seinem Frauli, die gerade ihren Zeigefinger heben will, um sich kurz vor ihr durch heftiges Schütteln vom gröbsten Wasser zu befreien. Frauli kiekst »Nein!« und reißt die Arme vors Gesicht. Das Schauspiel ist zu Ende.
Bereits in dieser Geschichte ist vieles dabei, das schon nicht mehr ›die‹ Wahrheit ist. Denn mit jedem Adjektiv habe ich bereits gewertet. Genauso wird es bei allen Beobachtern sein. Das verliebte Paar, das entspannt, an einem Baum lehnend, das Schauspiel beobachtet hat, wird es sicher anders bewerten, als Hupsis nass gespritztes Frauli.
Die Wahrheit jedoch ist das, was ist.
Alles andere sind Sichten darauf. So gibt es zu jeder noch so kleinen Situation das wahre Geschehen an sich und die beliebig vielen wertenden Blicke darauf. Aus diesen Schlüssen gibt es für mich zu jeder Situation eine Wahrheit, also was geschehen ist, und unzählige Wirklichkeiten, also wie die Wahrheit sich auf die Betrachter (aus)wirkt.
Mit der einen, großen Wahrheit sehe ich es genauso. Wie das Universum aufgebaut ist und wie die Schöpfungsgesetze wirken, ist die Wahrheit. Wie sie jeder Einzelne wahrnimmt und dann beschreibt, ist seine individuelle Wirklichkeit.
In diesem Zusammenhang finde ich erwähnenswert, dass etwa die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg (GfK) sich bei der ersten Stufe, wie man einen Konflikt behandelt, auf das bezieht, was tatsächlich geschehen ist, frei von Wertung. Etwa ›Hund hat sich losgerissen und springt bei seiner Entenjagd in den Teich.« Erst dann geht die GfK weiter zu den hinter der Handlung stehenden Bedürfnissen und Gefühlen, die aus der Wahrheit Wirklichkeiten werden lassen.
Ich finde es wichtig, Begriffe zu entrümpeln, was nicht immer ganz einfach ist. Doch nur so wird es uns gelingen, Bilder zu transportieren, die außerhalb des Mess- und Sichtbaren liegen.
Und wieder entdecken wir: Nur durch Fragen und Zuhören erfahren wir, was der Andere wahr-nimmt. Gerade in der heutigen Zeit so wichtig.
Das mit den Gemeinschaften kann ich bestätigen. Ich konnte die geforderten Abstriche und Wertungen nie realisieren, da sie nicht mit meinem Inneren harmonierten.